• Gedichte zum Nachspüren

Gedichte zum Nachspüren

Gedichte für die Seele

Zu allen Zeiten haben sich Dichter dem gesunkenen Mut der Seele angenommen und haben es verstanden, mit ihren Gedichten neuen Lebensmut zu wecken.

Mut zum Leben

Mut zum Leben

kommt
ohne Vorankündigung.
Neugieriges
Staunen.
Tränenreiche
Arbeit.
Nähe.
Zerissenheit.
Einlassen
im Mut
zu mir
ermöglicht
ungeahnte Begegnungen.

Iris Pohlers

Landkarte fürs Leben

Mein unverwüstliches Zuversichts-Reservoir ist leer,
meine übersprudelnde Energie-Box auch.
Starker Kern, wo bist du bloß?

Der Fokus auf meine Möglichkeiten und Chancen liegt nicht an seinem Platz

Ich will die Wertschätzung anderer spüren, auch ohne Worte,
denn dann müsste ich nicht so viele Fragen stellen.

Und der Vergleich, der ist ein ganz blödes Spiel,
da steige ich aus.

Lieber auf Umwegen ans Ziel.
Entwicklung als Abenteuer.

Vielleicht werde ich dann bald schon meine innere Freiheit gewinnen.

Leidenschaft und Freude und Hoffnung.
Lächelnd umarme ich dann mein Leben.

Aus: Trag dein Licht! Gedichtband von Anna Geisler
Bestelladresse: a-geisler @ arcor.de

Landkarte fürs Leben

Warum ich früh aufwache

Hallo, Sonne auf meinem Gesicht.
Hallo dir, die du den Morgen machst
und ihn über die Felder verteilst
und in den Gesichtern der Tulpen
und anderer nickender Morgenschönheiten,
und in den Fenstern, ja, auch
der Elenden und Übelgelaunten –

beste Predigerin aller Zeiten,
lieber Stern, der rein zufällig
dort im Universum ist, wo er ist,
um uns vor ewiger Dunkelheit zu bewahren,
um uns mit einer wärmenden Berührung das Leben zu erleichtern,
um uns in deinen großartigen Händen
des Lichts zu halten –
guten Morgen, guten Morgen, guten Morgen.

Sieh nur, jetzt, wie ich den Tag beginne,
voller Glück, voller Freundlichkeit.

Mary Oliver
(aus dem amerikanischen übersetzt
von Konstanze Quirmbach)

Warum ich früh aufwache

 „Why I Wake Early“, gelesen von Mary Oliver: » zum Video
Den Originaltext „Why I Wake Early“ kannst du » hier nachlesen.

Mondnacht

Mondnacht

Es war, als hätt’ der Himmel
Die Erde still geküßt,
Daß sie im Blütenschimmer
Von ihm nun träumen müßt‘.

Die Luft ging durch die Felder,
Die Ähren wogten sacht,
Es rauschten leis’ die Wälder,
So sternklar war die Nacht.

Und meine Seele spannte
Weit ihre Flügel aus,
Flog durch die stillen Lande,
Als flöge sie nach Haus.

Joseph Freiherrn von Eichendorff

Anleitung zum guten Leben

Lass dich fallen,
lerne Schnecken zu beobachten.
Pflanze unmögliche Gärten.

Lade jemanden Gefährlichen zum Tee ein.
Fertige kleine Zeichen, die “ja” sagen
und verteile sie überall in deinem Haus.

Werde ein Freund von Freiheit und Unsicherheit.
Freue dich auf Träume.
Weine bei Kinofilmen.
Schaukle so hoch du kannst mit deiner Schaukel bei Mondlicht.
Pflege verschiedene Stimmungen.

Anleitung zum guten Leben

Verweigere dich, ’verantwortlich zu sein‘ – tue es aus Liebe!
Mache eine Menge Nickerchen.
Gib Geld weiter. Tue es jetzt. Das Geld wird folgen.
Glaube an Zauberei, lache eine Menge.
Bade im Mondschein.
Träume wilde, fantasievolle Träume,
Zeichne auf die Wände.
Lies jeden Tag.

Stell dir vor, du könntest zaubern.
Kichere mit Kindern, höre alten Leuten zu.
Öffne dich, tauche ein. Sei frei. Schätze dich selbst.
Lass die Angst fallen, spiele mit allem.
Unterhalte das Kind in dir. Du bist unschuldig.
Baue eine Burg aus Decken. Werde nass. Umarme Bäume. Schreibe Liebesbriefe.

engl. Original „How to be an Arist“ von Susan Ariel Rainbow Kennedy (SARK)

Köstliche Momente

Bewahren sollst du sie
in deiner Erinnerung,
diese Momente,
in denen die Zeit
Ewiges erspürt,
in denen Göttlichkeit
sich erdet,
wo die ewig fließende Zeit
für einen Moment
das ewige JETZT gebiert.

Johanna Arlt
aus dem Gedichtband
Lichtstrahl aus ewiger Welt

Keine Leine

Wir ließen unsere Drachen
in den endlosen Wiesen steigen.
Wenn sie sich losrissen,
torkelten sie kilometerweit durch die blaue Luft.
Schon damals verstand ich meine Verwandtschaft
mit dem entfernten Horizont,
mit den Blumen, in denen wir bis zu den Knien standen,
mit dem Losreißen, mit dem Kreuz
auf das das halbdurchsichtige Papier gespannt war.
Nicht aufgehört hat die Erkenntnis der Wahrheit
zwischen den Grashalmen.
Manchmal fliege ich jetzt, bin durchsichtig
und keine Leine hält mich mehr.

Ulrich Schaffer

Drachen an der Leine
Wasser

Wasser

Wir gingen durch Wasser …
Die Wasser gingen über uns hinweg …
wir wurden hin- und hergespült …

Schlacken wurden ausgewaschen …
Wir wurden geformt,
verändert …

Trotzdem wehren wir uns
gegen diese Fluten.

Veränderung ist schmerzhaft,
Reifen ist schwer.
Schau auf den Strand,
Muster und Furchen im Sand.

wie kleine Wellen hingezaubert,
dazwischen Steine und Muscheln.

Die Flut kommt und geht.

Nichts ist mehr, wie es war,
neue Muster, neue Wellen,

alles ist anders, alles neu.

Gedicht und Bild: Sigrid Berg

Der Sommertag

Wer hat die Welt geschaffen?
Wer hat den Schwan geschaffen, und wer den schwarzen Bären?
Wer hat die Heuschrecke geschaffen?
Diese Heuschrecke, meine ich –
die, die sich aus dem Gras erhoben hat,
die, die Zucker aus meiner Hand frißt,
die ihren Kiefer vor und zurück, statt auf und nieder bewegt –
die sich umschaut mit ihren riesigen, komplizierten Augen.
Jetzt hebt sie ihre blassen Vorderarme
und wäscht sich gründlich ihr Gesicht.

sommertag

Jetzt klappt sie ihre Flügel auf
und schwebt weg.
Ich weiß nicht genau,
was ein Gebet ist.
Ich weiß nur, wie man aufmerksam ist,
wie man hinfällt
ins Gras hinein, wie man sich im Gras niederkniet,
wie man müßig und gesegnet ist, wie man durch die Felder streunt,
denn das ist es, was ich den ganzen Tag lang getan habe.
Sage mir, was hätte ich sonst tun sollen?
Stirbt nicht alles zu guter Letzt, und viel zu schnell?
Sage mir, was hast Du vor
mit Deinem einen, wilden, kostbaren Leben?

Mary Oliver

 „The Summer Day“, gelesen von Mary Oliver: » zum Video
Den Originaltext kannst du » hier nachlesen.

Stein

Manchmal
fühl‘ ich mich
wie ein Stein,

hin- und hergeworfen,
gerieben,
gestoßen,
getreten,
benutzt,
schmerzhaft ausgesetzt.

Manchmal
möcht‘ ich
ein Stein sein,
mit Linien und
Mustern,
Abbild
seiner Geschichte,
fest
und verlässlich,
in sich

ruhend.

Gedicht und Bild: Sigrid Berg

manchmal, Sigrid Berg
Schmetterling

Einen
neuen Himmel
eine
neue Erde
wünsche ich mir
Ein kleines Stück
Geborgenheit im
tiefen Blau der
gefräßigen Tage
Die Chance
noch einmal neu
anzufangen
Das Leben nach
Kriterien der Gelassenheit
zu gestalten
Ungelebte Fähigkeiten
in den Mittelpunkt
zu stellen
Freiwerden
Durchatmen
Aufatmen
Neue Saiten
klingen lassen

© Ursula Sänger-Strüder (Köln)

Japanese Bowls / Japanische Schalen

Ich bin wie eine dieser japanischen Schalen
die vor langer Zeit gemacht wurden
Ich habe ein paar Risse
Sie wurden mit Gold gefüllt.

Das benutze man damals
wenn eine Schale zerbrochen war
Das versteckte nicht die Risse
Das brachte sie zum Glänzen.

Und so ist jetzt jede Wunde sichtbar
von jeder vergangenen Verletzung
Und es ist für jedes Auge sichtbar
Ich bin nicht mehr, was ich war.

Doch der Sammler erkennt:
All diese unsicheren Linien
machen mich schöner
und wertvoller, rechtfertigen einen höheren Preis.

Ich bin wie eine dieser japanischen Schalen
Ich wurde vor langer Zeit gemacht
Ich habe einige sichtbare Risse
– Sieh nur, wie golden sie glänzen.

Peter Mayer
(übersetzt von Konstanze Quirmbach)

zündstoff

Mit Zündstoff

Sei gefasst –
es kann dir Hals und Kragen kosten
Mark und Bein
wenn du die Träume lebst
die du seit jeher hattest

Nein –
es wird nicht sein wie früher
anders wird es werden
niemand löscht
ein Feuer
das dich mittendurch entzündet
keiner bremst
den Zug auf voller Fahrt

Vreni Merz

Meer

Erich Fried

Über die Geduld

Man muss den Dingen
die eigene, stille ungestörte Entwicklung lassen,
die tief von innen kommt
und durch nichts gedrängt oder beschleunigt werden kann,
alles ist ausgetragen –
und dann geboren…

Reifen wie der Baum,
der seine Säfte nicht drängt
und getrost in den Stürmen des Frühlings steht,
ohne Angst
dass dahinter kein Sommer kommen könnte.

Er kommt…!
Aber er kommt nur zu den Geduldigen,
die da sind,
als ob die Ewigkeit vor Ihnen läge,
so sorglos, still und weit.

Man muß Geduld haben
gegen das Ungelöste im Herzen
und versuchen, die Fragen selbst lieb zu haben,
wie veschlossene Stuben
und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind.

Es handelt sich darum, alles zu leben.
Wenn man die Fragen lebt,
lebt man vielleicht allmählich,
ohne es zu merken,
eines fremden Tages
in die Antworten hinein.

Rainer Maria Rilke

Blätter im Herbst

Du darfst missmutig nicht verzagen

Du darfst missmutig nicht verzagen,
In Liebe nicht noch im Gesang,
Wenn mal ein allzu kühnes Wagen,
Ein Wurf im Wettspiel dir mißlang.

Wes Fuß wär‘ niemals fehlgesprungen?
Wer lief nicht irr‘ auf seinem Lauf?
Blick hin auf das, was dir gelungen,
Und richte so dich wieder auf.

Vorüber ziehn die trüben Wetter,
Es lacht aufs neu der Sonne Glanz,
Und ob verwehn die welken Blätter,
Die frischen schlingen sich zum Kranz.

Theodor Fontane

Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen

Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge ziehn.
Ich werde den letzten wohl nicht vollbringen
aber versuchen will ich ihn.

Ich kreise um Gott, den uralten Turm,
und ich kreise jahrtausendelang;
und ich weiß noch nicht: bin ich ein Falke, ein Sturm
oder ein großer Gesang.

Rainer Maria Rilke
(Aus dem Stundenbuch, erschienen 1905)

wachsende Ringe

Stufen

Hermann Hesse

entre nous - Unter uns

Entre nous

We are secrets to each other
Each one’s life a novel
No-one else has read.
Even joined in bonds of love,
We’re linked to one another
By such slender threads.

We are planets to each other,
Drifting in our orbits
To a brief eclipse.
Each of us a world apart,
Alone and yet together,
Like two passing ships.

Just between us,
I think it’s time for us to recognize
The differences we sometimes fear to show.
Just between us,
I think it’s time for us to realize,
The spaces in between
Leave room for you and I to grow.

We are strangers to each other,
Full of sliding panels,
An illusion show.
Acting well-rehearsed routines
Or playing from the heart?
It’s hard for one to know.

We are islands to each other,
Building hopeful bridges
On a troubled sea.
Some are burned or swept away,
Some we would not choose,
But we’re not always free.

Neil Peart

Unter uns

Jeder ist ein Geheimnis für andere
Jedes einzelne Leben ein Roman,
den kein anderer gelesen hat.
Selbst die Bande der Liebe
verbinden uns miteinander
durch nur feine Fäden.

Wir verhalten uns wie Planeten zueinander,
jeder schwebt auf seiner Umlaufbahn
hin zu einer kurzen Vereinigung.
Welten entfernt ist einer vom anderen,
alleine und doch zusammen,
wie zwei sich kreuzende Schiffe.

Unter uns gesagt,
ich denke es ist an der Zeit für uns,
die Unterschiede anzuerkennen, die wir uns manchmal fürchten zu zeigen.
Ich denke es ist an der Zeit zu erkennen,
dass der Abstand zwischen uns
Platz für Dich und mich zum Wachsen lässt.

Wir sind Fremde füreinander,
umgeben uns mit schützenden Wällen,
spielen auf der Bühne der trügerischen Hoffnungen.
Wir führen gut eingeübte Routinen auf,
Oder spielen wir aus dem Herzen?
Schwer für uns, den Unterschied zu kennen.

Wir sind wie Inseln,
zwischen denen wir Brücken der Hoffnung bauen,
in einer unruhigen See.
Manche Brücke wird verbrannt,
manche Brücke wird weggeschwemmt,
manche Brücke würden wir nicht für uns wählen.
Aber wir sind nicht immer frei.

Neil Peart

Herbsttag

Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren laß die Winde los.

Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
gieb ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.

Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.

Rainer Maria Rilke

Alles fügt sich

Alles fügt sich, alles schickt sich
musst es nur erwarten können
und dem Wachsen deiner Wünsche
Zeit und reichlich Bilder gönnen.
Bis du eines fernen Tages
jenen reifen Duft der Körner spürst
und dich aufmachst
und die Ernte in die tiefen Speicher führst.

Christian Morgenstern

alles fügt sich

Ich wage es

Ich wage es

Ich wage es,
an mich selbst zu glauben:
an meinen Drang nach Reife,
an meine Liebesfähigkeit,
an meine Begabung zur Freundschaft,
an meine entschiedene Ausdauer,
an meine immer neue Hoffnung.
Aber auch wenn ich versage und Fehler mache,
wenn ich unnötig verletze,
wenn ich anderen die Freiheit nehme,
wenn ich kleinkariert werde,
wenn ich mich nicht mehr erneuere,
wenn ich hart und unnahbar werde,
auch dann will ich glauben,
daß neben der Zerstörung
auch das Lebensförderliche in mir wohnt,
und ich will es hervorlocken
mit meiner Hoffnung und meinem Mut.

Ulrich Schaffer

Zärtlich nah

Zärtlich nah
Zärtlich berührt
einander Zuwendung schenken
ohne den Freiraum zum Wachsen
zu verlieren

Zärtlich nah
einander Geborgenheit erfahren lassen
im Genießen der erotischen Kraft
der Freundschaft

Zärtlich aufgerichtet
einander Weite eröffnen
zum Sinn des Lebens bewegt:
wirklich lieben können

Zärtlich verwurzelt
einander in Verschiedenheit ergänzen
zum schöpferischen Mitsein
angestiftet

Pierre Stutz

zärtlich nah

Was es ist

Erich Fried

Mit der Zeit lernst Du,

dass eine Hand halten nicht dasselbe ist
wie eine Seele fesseln
Und dass Liebe nicht Anlehnen bedeutet
und Begleitung nicht Sicherheit.

Du lernst allmählich,
dass Küsse keine Verträge sind
und Geschenke keine Versprechen

Und Du beginnst,
Deine Niederlagen erhobenen Hauptes
und offenen Auges hinzunehmen
mit der Würde des Erwachsenen,
nicht maulend wie ein Kind.

Und Du lernst,
all Deine Straßen auf dem Heute zu bauen,
weil das Morgen
ein zu unsicherer Boden ist.

Mit der Zeit erkennst Du,
dass sogar Sonnenschein brennt,
wenn Du zuviel davon abbekommst.

Also bestell Deinen Garten
und schmücke selbst
Dir die Seele mit Blumen,
statt darauf zu warten,
dass andere Dir Kränze flechten.

Und bedenke,
dass Du wirklich standhalten kannst …
und wirklich stark bist.

Und dass Du Deinen eigenen Wert hast.

Kelly Priest

Lebenswege

Lebenswege

Es gibt Wege
die sind zu gehen
weil der Fluss
seinem Lauf folgen muss
um sich selbst
zu sein

eine Sehnsucht mitbekommen hat
die ihn lebendig
hält

Daran werden sich unsere
Lebenswege messen lassen:

Ob an ihren Ufern
das Leben
gedeiht.

Thomas Schied

Augenblicke

Wenn ich mein Leben noch einmal leben könnte, im nächsten Leben würde ich versuchen mehr Fehler zu machen.
Ich würde nicht so perfekt sein wollen, ich würde mich mehr entspannen.

Ich wäre ein bisschen verrückter, als ich gewesen bin, ich würde viel weniger Dinge so ernst nehmen. Ich würde nicht so gesund leben.
Ich würde mehr riskieren, würde mehr reisen, Sonnenuntergänge betrachten, mehr Berg steigen, mehr in Flüssen schwimmen.

Ich war einer dieser klugen Menschen,
die jede Minute ihres Lebens fruchtbar verbrachten; freilich hatte ich auch Momente der Freude, aber wenn ich noch einmal anfangen könnte, würde ich versuchen, nur mehr gute Augenblicke zu haben.

Falls du es noch nicht weißt:
Aus diesen besteht nämlich das Leben;
Nur aus Augenblicken, vergiss den jetzigen nicht!

Wenn ich noch einmal leben könnte,
würde ich von Frühlingsbeginn bis in den Spätherbst hinein barfuß gehen.
Und ich würde mehr mit Kindern spielen, wenn ich das Leben noch vor mir hätte.

Aber sehen Sie, ich bin 85 Jahre alt und weiß, dass ich bald sterben werde.

(Der Verfasser ist unbekannt, dennoch wird der Text häufig fälschlicherweise Jorge Luis Borges zugeschrieben.)

Augenblicke
Trakl, Sonniger Nachmittag

Sonniger Nachmittag

Ein Ast wiegt mich im tiefen Blau.
Im tollen, herbstlichen Blattgewirr
Flimmern Falter, berauscht und irr.
Axtschläge hallen in der Au.

In roten Beeren verbeißt sich mein Mund
Und Licht und Schatten schwanken im Laub.
Stundenlang fällt goldener Staub
Knisternd in den braunen Grund.

Die Drossel lacht aus den Büschen her
Und toll und laut schlägt über mir
Zusammen das herbstliche Blattgewirr –
Früchte lösen sich leuchtend und schwer.

Georg Trakl

Am Strande

Marie Luise Kaschnitz

Gewöhnliche Menschen hassen die Einsamkeit,
doch der Meister nutzt sie,
umarmt sein Alleinsein und erkennt,
daß er eins ist mit dem gesamten Universum.

Laotse, Tao Te King

Achte gut auf DIESEN Tag

Achte gut auf DIESEN Tag,

denn er ist das Leben –
das Leben allen Lebens.
In seinem kurzen Ablauf
liegt alle Wirklichkeit
und Wahrheit des Daseins,
die Wonne des Wachsens,
die Herrlichkeit der Kraft

Denn das Gestern
ist nichts als ein Traum
und das Morgen nur eine Vision.
Das heute jedoch – recht gelebt –
macht jedes Gestern
zu einem Traum voller Glück
und das Morgen
zu einer Vision voller Hoffnung.

Darum achte gut auf DIESEN Tag.

aus dem Sanskrit

Autobiographie in fünf Kapiteln

Chance

Ich gehe die Straße entlang.
Da ist ein tiefes Loch im Gehsteig.
Ich falle hinein.
Ich bin verloren … Ich bin ohne Hoffnung.
Es dauert endlos, wieder herauszukommen.

Ich gehe dieselbe Straße entlang.
Da ist ein tiefes Loch im Gehsteig.
Ich tue so, als sähe ich es nicht.
Ich falle wieder hinein.
Ich kann nicht glauben, schon wieder am gleichen Ort zu sein.
Aber es ist nicht meine Schuld.
Immer noch dauert es sehr lange, herauszukommen.

Ich gehe dieselbe Straße entlang.
Da ist ein tiefes Loch im Gehsteig.
Ich sehe es.
Ich falle immer noch hinein … aus Gewohnheit.
Meine Augen sind offen.
Ich weiß, wo ich bin.
Es ist meine eigene Schuld.
Ich komme sofort heraus.

Ich gehe dieselbe Straße entlang.
Da ist ein tiefes Loch im Gehsteig.
Ich gehe darum herum.

Ich gehe eine andere Straße.

(aus: Portia Nelson, There’s a Hole in My Sidewalk)

In Sand geschrieben

Hermann Hesse

Blüten

Linguistik

Du mußt mit dem Obstbaum reden.
Erfinde eine neue Sprache,
die Kirschblütensprache,
Apfelblütenworte,
rosa und weiße Worte,
die der Wind
lautlos
davonträgt.

wenn dir ein Unrecht geschieht.
Lerne zu schweigen
in der rosa
und weißen Sprache.

Hilde Domin
(aus:  Hilde Domin, Sämtliche Gedichte, © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2009. Die Verwendung des Gedichtes erfolgt mit freundlicher Genehmigung des S. Fischer Verlages.)