Die Orangen-Philosophie
„Wer aber niemand achtet, der hört auch auf, sich selbst zu lieben.“
(F.M. Dostojewskij, 1821-1881, russischer Schriftsteller)
Die Worte Dostojewskijs ergeben auch andersherum Sinn: Wer sich nicht selbst liebt, der bringt auch anderen wenig Achtung entgegen. Oder, etwas salopper gesagt, wer sich selbst nicht leiden kann, der denkt und redet auch über andere schlecht. Das als wahr angenommen, lässt sich weiter folgern: Was wir über andere sagen, sagt im Grunde eine Menge über uns selbst aus!
Wenn Sie also gerne reden und vielleicht die Absicht haben sollten, über andere Personen zu sprechen, dann seien Sie sich bewusst darüber, dass dies dem guten Zuhörer eine Menge über Sie verraten kann.
Was haben Menschen und Orangen gemeinsam?
Vor ein paar Jahren schon habe ich irgendwo einmal einen Spruch gelesen, dessen Inhalt sich mir unvergesslich eingeprägt hat. Ich weiß ihn nicht mehr wortwörtlich, aber es geht um den Vergleich zwischen einer Orange und einem Menschen. Kaum zu glauben, dass ich so viel Wahrheit in einem eigentlich idiotischen Vergleich finden und das nie mehr vergessen konnte! Vielleicht wird es Ihnen ja ähnlich gehen.
Was haben Menschen und Orangen gemeinsam?
Hier die Antwort: Es kommt heraus, was drin ist.
Presst man Orangen aus, kommt heraus, was drin ist – nämlich Orangensaft.
Drückt sich ein Mensch aus, dann kommt aus seinem Munde und aus seiner Vorstellung ebenfalls das, was in ihm drin ist – nämlich seine innere Haltung.
In mir hat diese (zugegeben etwas abstruse) Logik eine neue Tür geöffnet. Es gelang mir fortan besser, nicht mehr nur für bare Münze zu nehmen, was andere Leute über mich sagten. Ich dachte an die Orange und erkannte, dass es auch um ihre eigene Haltung, Gesinnung, Meinung, Einstellung usw. geht, und nicht wirklich nur um mich. Andere sagen das, was ihrer Vorstellung entspricht. Das muss sich aber nicht mit meiner Wahrnehmung oder meiner inneren Wahrheit decken.
So wurde dieser Vergleich in zweierlei Hinsicht ziemlich wichtig für mich. Zum einen hat er meine Art zuzuhören verändert. Ich höre heute viel mehr darauf, was jemand über sich selbst sagt. Zum anderen bin ich achtsamer geworden für mich selbst, für das, was ich denke und was ich sage. Vor allem höre ich innerlich auch auf das, was ich über mich selbst sage, wenn ich über scheinbar neutrale Dinge oder gar andere Menschen rede.
Es kommt raus, was drin ist.
In einem meiner früheren Newsletter habe ich das 4-Ohren-Modell von Friedemann Schulz-von-Thun vorgestellt. Zur Erinnerung wiederhole ich hier noch einmal die vier Ebenen, auf denen nach diesem anerkannten Modell zwischenmenschliche Kommunikation stattfindet.
- Sachebene: Worüber wird gesprochen?
- Selbstkundgabe: Was sagt der Sprecher über sich selbst aus? (Ich-Aussage)
- Beziehungsebene: Was sagt Sprecher über die Beziehung zu seinem Gegenüber? (Du-Botschaft)
- Apellebene: Was möchte der Sprecher erreichen, dass ein Zuhörer tun soll? (Aufforderung)
Die Aussage, dass sich in allem Gesagten auch die innere Haltung des Sprechers „verrät“ (angenommen er wollte sie verheimlichen), steckt in der Ebene zwei, der Selbstkundgabe – was ich jetzt einmal als „Orangen-Philosophie“ bezeichne.
Jeder Mensch nimmt seine Welt durch seine persönlichen Filter wahr und denkt innerhalb der ihm zugänglichen und verstehbaren Welt. Sobald jemand spricht, erhalten wir Einblick in diese Welt – vielleicht manchmal mehr, als dies beabsichtigt ist. Diese Erkenntnis verschafft uns gleichzeitig auch eine angenehme Distanz, finde ich, denn wir müssen uns nicht mit der Welt anderer identifizieren. Wir können uns abgrenzen und sagen: „Wie interessant, so denkt er/sie also“, um dann zu entdecken, wie und worin sich unsere eigene innere Welt unterscheidet.
Worte drücken demnach mehr aus, als nur die zu vermittelnde, vordergründige Botschaft:
Der, dem man nichts recht machen kann, hat möglicherweise Selbstzweifel und ist mit sich selbst nicht zufrieden.
Wer alles toll findet, traut sich vielleicht einfach nicht, zu widersprechen und ist extrem harmoniebedürftig.
Wer an allem etwas zu meckern hat, ist sicher nicht zufrieden mit seinem Leben.
– Es kommt heraus, was drin ist.
Grenzen achten
Das Gefühl, andere zu achten, ist ein Spiegel der Selbstachtung. Fehlt dieser Spiegel, d.h. spüren wir selten oder wenig das Gefühl von Achtung in uns, führt dies nach und nach dazu, dass wir uns auch selbst nicht mehr mögen, achten, anerkennen – so sagt Dostojewskij sinngemäß. Ich glaube, man darf diese Worte nicht so missverstehen, dass wir unser Gegenüber stets mehr achten sollten als uns selbst. Das wäre meiner Meinung nach fatal. Es gibt Situationen, in denen es entscheidend ist, dass wir uns selbst an die erste Stelle setzen und in denen die Selbstachtung der Fremdachtung vorgeht: Zum Beispiel, wenn andere uns ihre Missachtung ausdrücken mit dem Ziel, uns klein oder schuldig zu machen, uns bewusst zu verletzen oder uns zu einem von ihnen gewünschten Verhalten zu manipulieren.
Die eigenen Grenzen zu spüren und zu beachten, dient dem Selbstschutz. Was uns andere sagen, an Worten anbieten, was sie uns manchmal einreden oder zuweilen auch entgegen schleudern, das müssen wir nicht annehmen. Wie können es zurückgeben, nicht reagieren, es nicht beachten. Wir ziehen eine deutliche Grenze zwischen ICH und DU. Mir fällt die Geschichte von Paulo Coelho über einen Zen-Mönch ein, in der er eine entscheidende Frage stellt:
Was geschieht, wenn du ein „Geschenk“ nicht annimmst?
Wem gehört es dann?
Das Geschenk sind in diesem Fall Worte, die einen Streit provozieren wollen.
Wir haben eine Wahl
Die Entscheidung liegt bei uns selbst. Entscheiden wir uns, ernst zu nehmen, was wir hören, haben wir die Wahl, auf den oben genannten vier verschiedenen Ebenen zu reagieren: Mit welchem Ohr hören wir hin? Bewegen wir uns auf der Sach-, der Ich-, der Du- oder der Appellebene?
Es bleibt Raum zur Interpretation. Wir können nachfragen, was genau gemeint ist, können uns abgrenzen und beim Sprecher lassen, was ausschließlich zu ihm gehört, nehmen, was uns angemessen ist.
Die Geschichte vom Zen-Mönchen thematisiert Streitsucht. Arroganz ist ebenfalls eine Haltung, die mit Worten und Verhalten andere klein machen will, und der das Grundelement der Achtung fehlt – sowohl dem fremden als auch dem eigenen Leben gegenüber. Das Ergebnis der Studien, die Dustin Woods, Psychologe an der Wake Forest Universität in North Carolina, im Juli dieses Jahres veröffentlicht hat, verwundert mich nicht mehr: „Arroganz macht unglücklich“, so fasst er die gewonnenen Erkenntnisse zusammen. „Wie wir andere sehen, sagt eine Menge über unsere eigene Persönlichkeit aus.“ Menschen, die selbst glücklich und zufrieden sind, beurteilen auch andere Menschen grundsätzlich positiver. Wer dagegen unglücklich ist, neigt zu einer negativen Sicht seiner Mitmenschen und der Welt. Zudem besteht die Gefahr, ja die Wahrscheinlichkeit gesundheitlicher Beeinträchtigungen, sowohl psychisch als auch physisch.
Immer wieder kreise ich darum, wie wir Menschen uns bewusst werden über das, was wir im Alltag tun – über unser Verhalten, unsere Gedanken, unsere Ängste, unseren Mut und manchmal unseren fehlenden Mut. Das Leben ist so kostbar und so kurz, jeder Tag zählt. Es fühlt sich ohne Frage besser an, mit einem zufriedenen Gefühl am Abend den Tag Revue passieren zu lassen: Was ist mir gelungen, wo habe ich gute Resonanz erzielt, welche guten Ergebnisse hat der Tag gebracht, wo habe ich mich mit anderen Menschen wohlgefühlt?
Es lohnt sich, jeden Tag bewusst zu gestalten – damit wir das spüren und bekommen, was wir haben wollen: Achtung und Liebe.
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