Nichts als die Wahrheit
„Zur Wahrheit gehören immer zwei: einer, der sie sagt, und einer, der sie versteht.“
(Henry David Thoreau)
Wie wahr ist „die Wahrheit“?
Sagen wir die Wahrheit und nichts als die reine Wahrheit?
Der Satz von Henry David Thoreau macht deutlich, dass der Begriff „Wahrheit“ nichts Eindeutiges ist. Wir halten das für die Wahrheit, was wir sehen oder was wir glauben zu wissen. Doch das ist häufig gar nicht so klar – und damit nicht so wahr – wie wir uns das gerne einbilden.
Ist es wahr, wenn wir sagen: „Die Menschen sind gut (oder schlecht)“? Oder stimmt es denn etwa, wenn jemand zu Ihnen sagt: „Hör doch auf, du kannst das nicht!? Und wenn Sie sagen: „Ich habe keine Zeit“ – ist dass denn dann die Wahrheit? Sie sehen schon, es kommt immer auf die Perspektive an, ob wir etwas für wahr halten oder nicht.

Bildrechte: Ulrich Schaffer Wahrheit und Wahrnehmung
Unsere Wahrheit hat immer mit unserer Wahrnehmung zu tun. Jeder sieht die Welt durch seine ganz eigene Brille. Sie ist gefärbt von individuellen Erfahrungen und Überzeugungen, Sozialisation und Kultur. Die neuere Hirnforschung macht deutlich, dass wir alles Neue in ein vorhandenes neuronales Netzwerk einbauen und dort hinzufügen, was uns zu einem Gesamtbild fehlt. Jeder ist überzeugt von der Richtigkeit des Bildes in seinem Kopf. Kurz gesagt, „Wahrheit“ ist zu einem nicht geringen Teil eine Frage der persönlichen Wahrnehmung.
Und doch lässt sich ein paradoxes Phänomen ebenso beobachten: Wir sind sehr schnell geneigt, auch das als wahr und zutreffend anzunehmen, was andere zu uns sagen. Es ist verrückt, dass wir uns kränken und verletzen lassen durch Behauptungen anderer, die nichts über uns wissen! Da fällt Abgrenzung häufig schwer und statt offensichtlich unwahre Worte ungenutzt an den Sprecher zurückzugeben, nehmen wir sie uns zu Herzen, obwohl wir eigentlich wissen, dass das Gesagte absolut nicht stimmt. Doch Killer-Phrasen funktionieren, obwohl sie nie stimmen.
Willst du Recht haben oder glücklich sein?
Ganz häufig erlebe ich, wie sich Gesprächspartner gegenseitig überzeugen wollen. Es geht nicht mehr um die Sache, sondern darum, wer Recht hat. Da wird viel hin und her diskutiert und gestritten, unter Umständen sogar geschlagen. Man trennt sich im Bösen, Menschen sprechen nicht mehr miteinander, weil sie eine unterschiedliche Auffassung von Wahrheit nicht aushalten. Sie verknüpfen ihren Selbstwert oder ihr Geltungsbedürfnis daran, recht haben zu müssen. Sie möchten sich selbst als wissend und gebildet sehen und beginnen an sich zu zweifeln, wenn sie im Unrecht sind. Die komplexe menschliche Psyche spielt uns da unter Umständen einen Streich.
Aber müssen denn alle dasselbe für wahr halten?
Können nicht verschiedene Wahrheiten nebeneinander existieren? Ja, muss es nicht sogar verschiedene Wahrheiten geben, wenn es ohnehin viele verschiedene Wahrnehmungen ein und derselben Sache gibt? Wie erleichternd wäre es, nicht recht haben zu müssen, sondern einfach alle Auffassungen nebeneinander bestehen lassen zu können! Und das schönste ist, dadurch würde sich rein objektiv gar nichts ändern.
„Ich kann anderen ihre Wahrheit lassen.“
Die Welt ist bunt. Wir begegnen einer großen Fülle von Wahrheiten. Wir sollten uns diese Freiheit lassen. Sie richtet keinen Schaden an, wenn wir einfach verschiedene Sichtweisen zulassen.
Es ist genug Platz auf der Welt, dass jeder seiner eigenen Wahrheit die Ehre geben kann, ohne dass wir uns darüber streiten müssten oder andere für weniger Wert halten müssten, weil sie anders denken. Wahrheit sollte den Menschen dienen statt sie auseinander zu dividieren.
Wenn Sie sich jetzt fragen, ob das wahr ist, was ich hier schreibe, dann erwidere ich: Können Sie es denn verstehen? Wenn ja, dann wären wir schon zwei. Und wer wollte dann noch daran zweifeln? – Vermutlich jemand, der etwas anderes für wahr hält.
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