Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?
Dieses Zitat, von dem nicht ganz klar ist, wer es in dieser Form geprägt hat, hat es als Buchtitel zu einer gewissen Berühmtheit gebracht. Richard David Precht begibt sich in seinem Buch auf eine „philosophische Reise“ zu verschiedenen Fragen des Seins. Auf dieser Reise kann es naturgemäß keine allgemeingültigen Antworten geben, sondern nur Hinweise und Eindrücke, die zu persönlichen Antworten führen. Denn letztlich stellen sich alle Menschen die Eingangsfrage immer wieder neu: Wer bin ich? Und im Laufe eines jeden Lebens gibt es zu jedem Zeitpunkt wohl immer wieder neue Antworten. Kein Mensch IST einfach nur so oder so, sondern jeder hat viele Möglichkeiten des Seins.
Selbsterkenntnis
Gnothi seauton – Erkenne dich selbst (dazu habe ich vor einiger Zeit schon einmal einen Blogbeitrag geschrieben). Diese Worte sind im Orakel von Delphi auf einer der Säulen der Eingangshalle zu lesen und das bestätigt, dass die Reise zu Selbsterkenntnis nicht neu ist. In Delphi erhofften sich die Menschen die Hilfe von Göttern bei der Suche nach einer Antwort. Offenbar war es noch nie einfach, eine Antwort auf die Frage des eigenen Seins zu finden. Das liegt meiner Meinung daran, dass unsere Psyche nicht einfach, sondern sehr komplex ist.
In der jungen Wissenschaft der Psychologie geht man heute davon aus, dass Menschen nicht eine unveränderliche Identität haben. Vielmehr verändern wir uns ständig, bedingt durch die Entwicklung in den verschiedenen Lebensphasen. In unterschiedlichen Rollen und Situationen verändern wir unsere Identität, beeinflusst von den jeweils beteiligten Menschen. Was wir erleben, prägt uns ständig neu. Wir nehmen neue Erfahrungen hinzu, die sich mit den bereits Bestehenden vernetzen und uns verändern. Wir finden neue Antworten auf alte Fragen. Das wirkt sich auf das aus, was wir denken, fühlen und tun.
Jeder ist viele
Um die Sache noch zu verkomplizieren, sind wir Menschen so angelegt, dass wir innerhalb dieser Rollen und Lebenssituationen nicht zuverlässig das Gleiche denken, fühlen oder tun. Innere Befindlichkeit, widersprüchliche innere Stimmen, Glaubenssätze und Werte, unsere Ziele, ob wir eine Person mögen oder nicht, ob wir uns selbst gerade mögen oder nicht, Verletzlichkeiten und Unsicherheiten, Arroganz und Selbstüberschätzung – all das hat Einfluss.
Wenn ich mich zum Beispiel heute über eine sehr wichtige Einladung (z.B. ein Rendezvous, eine interessante Gesellschaft, ein Vorstellungsgespräch) freuen kann und ich mich stolz und dankbar fühle, bin ich mit meiner starken Seite in mir auf Du und Du. Es kann sein, dass sich dann aber auch die schwache Seite in mir meldet, dass Ängste geweckt werden und sich in mir ausbreiten. Dann identifiziere ich mich nach und nach nicht mehr mit der stolzen, selbstbewussten und frohen Person in mir, sondern ich fühle mich zunehmend verunsichert, habe vielleicht sogar Angst, nicht zu genügen, will mich unter den Eingeladenen nicht zeigen oder die Einladung sogar absagen.
Wie würden Sie sich in dieser Situation die Frage beantworten: Wer bin ich?
Widersprüchliche innere Anteile
Was wir denken, wer wir sind, kann unterschiedlich ausfallen – je nachdem nämlich, mit welcher Seite in uns wir gerade in Kontakt sind:
Ist es die selbstsichere Person in uns, die weiß, was sie kann und will?
Oder ist es die verletzliche Person in uns, die unsicher ist und sich abhängig oder klein fühlt?
Ist es die Person, die jedes Risiko eingeht, um ihre Ziele zu erreichen?
Oder ist es diejenige voller Selbstzweifel, die sich innerlich klein macht und sich nichts zutraut?
Ist es die ärgerliche, reizbare, zynische Person?
Oder die liebevoll verständnisvolle, verzeihende, der wir uns gerade nahe fühlen?
Die jeweilige innere Nähe zu einer Seite in uns hat entscheidenden Anteil an unserem Verhalten, unserer Selbsteinschätzung und damit an der Antwort auf die Frage, wer wir eigentlich sind. Die einzig richtige Antwort kann nur lauten: Wir sind widersprüchlich, wir haben verschiedenste Seiten und genau betrachtet ist jeder tatsächlich viele.
Deine Seiten – meine Seiten
Ich finde es deshalb extrem schade, wie selbst ich manchmal unwillkürlich andere Menschen in Schubladen packe. Ach, der ist ein Angeber – mag ich nicht. Oh je, die stolziert aber auf ihren hohen Hacken – gefällt mir nicht. Oh nein, was ist das für ein unmöglicher Autofahrer vor mit – ab in die unterste Schublade mit ihm!
Gedanken und Bewertungen sind in Bruchteilen von Sekunden einfach in meinem Kopf. Erst im nächsten Gedanken wird mir deutlich: Es ist nur eine Seite an einem anderen Menschen, die ich gerade wahrnehmen. Und ich nehme das auch nur deshalb wahr, weil das, was ich registriere, irgendwie mit mir zu tun hat.
In diesem Sinne wünsche ich uns einmal mehr – und mit geschärftem Blick auf “die Vielen” in uns und in anderen – eine besonders achtsame Zeit im Umgang mit uns selbst und mit anderen Menschen.
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