Positives Denken und Affirmationen – hilft das wirklich?
Roland Kopp-Wichmann rezensiert das Buch von Konstanze Quirmbach „Ich bin da. Sich SELBST BEWUSST wahrnehmen. Dem Leben POSITIV begegnen.“
Emile Coué war ein französischer Apotheker, der früh davon ausging, dass das Unterbewusstsein einen großen Anteil an allen Gesundungsprozessen hat und jeder Mensch sich selbst positiv beeinflussen kann. Er gilt als Begründer der Autosuggestion und gab seinen Patienten positive Sätze („Affirmationen“), die sie jeden Tag mindestens zwanzig Mal morgens beim Aufwachen und abends beim Einschlafen sich sagen sollten. Sein bekanntester Satz war:
„Es geht mir von Tag zu Tag in jeglicher Hinsicht immer besser und besser.“
Coué hatte mit seiner Methode großen Erfolg. Im Nachgang hat sich das „positive Denken“ weltweit verbreitet. Vor allem Joseph Murphy propagierte die Methode, dass man durch konstante positive Beeinflussung seines bewussten Denkens mit Hilfe von Affirmationen (oder Visualisierungen) in seinen Gedanken eine optimistische Grundhaltung erreichen könne.
Unter dem Titel „Ich bin da“. Sich SELBST BEWUSST wahrnehmen. Dem Leben POSITIV begegnen, legt die Gestalttherapeutin Konstanze Quirmbach ihr erstes Buch vor.
Es ist ein wunderschönes Buch
Gleich vorweg: Es ist ein wunderschönes Buch geworden. Nicht nur vom Inhalt her, sondern auch von der Aufmachung. 255 Seiten hochwertiges, gestrichenes Papier mit angenehmer, aufgelockerter Typographie, vielen begleitenden Fotografien. Es macht Spaß, darin zu blättern und sich in die einzelnen Themen zu vertiefen.
Nach einer Einführung über die Arbeit mit bewusster Wahrnehmung geht es im 2. Teil los mit „Affirmationen machen stark“. Die folgenden Kapitel beinhalten unter einer Überschrift wie zum Beispiel „Ich bin da“ verschiedene Affirmationen wie beispielsweise: „Ich darf sein, wie ich bin.“ Zu jeder Affirmation gibt es einen einführenden Text, eine Meditation über Fragen oder eine Fotografie und psychologische Hinweise.
Gedanken, Gefühle und Körperhaltung hängen eng zusammen und beeinflussen sich gegenseitig. Wer auf der Fahrt ins Büro im Autoradio seinen schmissigen Lieblingssong hört, bekommt vermutlich gute Laune und betritt beschwingt das Gebäude. Wer zehn Minuten absichtlich mit hängenden Schultern und schleppendem Schritt herumläuft, wird ebenso eine Änderung seiner Gemütslage feststellen. Genauso wie es unmöglich ist, mit aufgerichtetem Oberkörper und einem absichtlichen Lächeln depressive Gedanken zu entwickeln.
Das Buch gliedert sich in folgende Kapitel mit entsprechenden Affirmationen:
Ich stehe für mich ein.
„Ich bin gut genug.“
„Meine Gefühle machen mich menschlich.“
„Ich wage es, mich zu zeigen, wie ich bin.“
Ich gebe nach.
„Ich kann anderen ihre Wahrheit lassen.“
„Ich kann zulassen, was ist.“
„Es finden sich Lösungen für all meine Probleme.“
Ich bin in meiner Kraft.
„Ich vertraue auf meine innere Stärke.“
„Ich gebe zu jedem Zeitpunkt mein Bestes.“ „Herausforderungen des Lebens nehme ich als neue Chancen.“
Die restlichen Kapitel gehen um die Themen: „Ich sehe die Welt.“ „Ich ziehe mich zurück.“ „Ich sehe die Welt neu.“ und „Die Reise fortsetzen.“
Besonders gelungen finde ich die Einbeziehung des Körpers in diese Art der Bewusstwerdung. In einem Extrabeitrag zeigt Martha M. Fritsch, wie man mit ausgesuchten Yoga-Positionen und Affirmationen die eigenen Ressourcen erweitern kann. So wird der bekannte Sonnengruß mit entsprechenden Affirmationen begleitet.
Aber helfen positives Denken und Affirmationen wirklich?
Eine breite Phalanx von Psychologen und Psychiater warnen davor, dass die Methoden labile und depressive Patienten sogar schädigen können. Besonders bei unkritischen Menschen können sie auch zu einem Realitätsverlust führen. Psychologieprofessor Neuberger sieht in der Methode des Positiven Denkens eine zirkuläre Falle: „Wenn du keinen Erfolg hast, dann bist du eben selber schuld, weil du es offensichtlich nicht richtig probiert hast.“ Vor allem werde das Problem des Versagens individualisiert, Misserfolge personalisiert, das Wirtschafts- und Gesellschaftssystem aber von Schuld freigesprochen.
Colin Goldner diagnostiziert „Denk- und Wahrnehmungsdefizite“ zunehmend bei Leuten, die den „trivialisierten Hypnosuggestionen“ und „pseudodialektischen Heilsversprechen“ tingelnder „Drittklassgurus“ auf den Leim gingen, und kritisiert den „psycho- und sozialdarwinistischen Machbarkeitswahn“ der Motivationstrainer.
Ein Dr. Scheich versucht sogar auf seinem Blog nachzuweisen, dass positives Denken krank mache.
Das ist natürlich Unsinn. Genau genommen, beeinflussen wir uns ja alle täglich mit Affirmationen, nur eben unbewusst. Wem etwas mißlingt, quittiert das – je nach innerer Einstellung – mit Gedanken wie „Das schaffe ich nie“ oder „Das wird schon klappen.“ Depressive Menschen machen den ganzen Tag Selbstsuggestionen, nur eben der negativen Art: „Typisch, dass das mir wieder passiert.“ „Alles ist sinnlos.“ „Warum muss ich immer Pech haben?“ Nur „passieren“ diese Gedankenmuster unwillkürlich. Doch weil der Betreffende keinen inneren Abstand dazu hat, empfindet er solche negativen Grübeleien meist als die Wahrheit und die einzig logische Schlussfolgerung aus einer Situation.
In der Neurobiologie ist bekannt, dass gewohnheitsmäßige Denkmuster mittel- und langfristig Auswirkungen auf unsere Gehirnaktivität haben. Auch sind Suggestion und Autosuggestion zum Beispiel in der Schmerztherapie therapeutisch nutzbar. Jeder Hypnotherapeut arbeitet mit positiven Suggestionen.
Aber Affirmationen wirken nicht immer positiv.
Ein Experiment von Joanne Wood mit Kollegen von der University of Waterloo zeigte, dass Teilnehmer mit gering ausgeprägtem Selbstbewusstsein alleine durch das Aufsagen allgemein positiver Sätze ihre Stimmung, ihren Optimismus und ihre Bereitschaft, an Aktivitäten teilzunehmen, messbar verschlechterten. Leute mit gutem Selbstbewusstsein profitierten wenig von der Autosuggestion. Auf ihrem Blog erläutert die Buch-Autorin die Ergebnisse dieser Studie.
„Jeder, der mit Affirmationen arbeitet, wird immer wieder einmal an einen Punkt kommen, an dem er inneren Widerstand gegen einen Satz spürt. Das Gefühl zu dem Satz stimmt einfach nicht. Die eigene Wunschvorstellung verursacht mehr inneren Stress, als dass die gewollte Entwicklung voraus genommen werden könnte. Das bedeutet für uns aber nicht, dass wir uns nicht selbst durch positive Sätze unterstützen könnten. Es heißt nichts anderes, als dass uns eine Grenze offenbar wird, über die wir nicht achtlos hinweg gehen sollten. Der Versuch beweist für mich vor allem eines, nämlich dass Affirmationen eine Wirkung haben, nur eben nicht immer direkt die erwünschte – und das ist für sich gesehen auch wieder positiv, eröffnet es doch eine Chance hinzuzulernen. (…)
Der Versuch zeigt meiner Meinung daher deutlich, dass Affirmationen nicht gegen die eigenen inneren Überzeugungen oder gegen unbewusste Glaubenssätze gewählt werden dürfen. Jeder muss auf sich selbst achten, damit er sich nicht schadet und muss auf seine inneren Widerspruch gegen eine Formulierung achten. Es ist danach eine Frage der Umformulierung, die richtige Affirmation zu finden, die tatsächlich unterstützend wirkt. Fühlt sie sich unstimmig an, sollte genau hier der innere Dialog fortgesetzt werden.“
Hier unterscheiden sich Affirmationen von meiner Arbeit.
In meinen Persönlichkeitsseminaren, im Coaching wie auch in der Psychotherapie arbeite ich auch oft mit positiven Sätzen. Allerdings mit einer anderen Absicht. Der positive Satz soll nicht eine Wunschvorstellung verstärken, sondern den zugrunde liegenden inneren Konflikt erlebbar machen.
Ein Beispiel: Im Buch steht die Affirmation „Ich akzeptiere mich in meiner vollkommenen Unvollkommenheit.“
Dieser Satz passt für alle Perfektionisten. Konstanze Quirmbach schreibt richtig: „Diese Affirmation ist ein Wortspiel. Sie greift einen unlösbaren Konflikt auf: den Wunsch Idealen zu entsprechen — also ‘vollkommen’ zu sein – und die Gewissheit, diesen Wunsch nicht verwirklichen zu können.“ (S. 72)
Aus einer tiefenpsychologischen Perspektive würde man jetzt annehmen, dass dahinter die Beziehungserfahrung in Kindheit und Jugend steht, oftmals nicht gut genug gewesen zu sein. Diesen Schritt geht das positive Denken nicht, was ich nicht als Kritik meine, sondern als Unterscheidung. Die Autorin schreibt: „Der Satz wirkt versöhnlich, annehmend, ermutigend.“
Dem stimme ich zu – wenn der Perfektionist diesen Satz für sich annehmen könnte. Die Autorin rät hier: „Es ist danach eine Frage der Umformulierung, die richtige Affirmation zu finden, die tatsächlich unterstützend wirkt.“ Sich hier dem inneren Konflikt zuzuwenden und ihn zu bearbeiten, wäre eher mein Ansatz.
Fazit
Das Buch ist wertvoll für alle, die dem positiven Denken nahe stehen oder sich dafür interessieren. Es bietet eine Fülle von menschlichen Themen, bei denen man beim Lesen oder Ausprobieren der Affirmation entdecken kann, welche Gefühle und Einstellungen man dazu hat. Es ist erfahrungsorientiert, das heißt, die Sätze und die begleitenden Fragen oder Meditationen können einen anregen, tiefer zu gehen. Es ist ganzheitlich, weil es Gedanken, Gefühle und den Körper gleichermaßen berücksichtigt und einbezieht. Es ist akzeptierend, das heißt, es vermittelt nicht den „einzig richtigen“ Weg, sondern lädt ein zu einer Reise in die eigene Innenwelt. Und es ist hilfreich, das heißt, wenn man mal in einem seelischen Tief steckt, kann allein das Lesen in diesem wunderschön gestalteten Buch einem gut tun und Hoffnung vermitteln.
Hier möchte ich die Affirmationen noch nennen, die mir persönlich am besten gefallen:
„Am Ende wird alles gut.“
„Ich habe alle Zeit, die ich brauche.“
„Mein Ziel findet mich.“
„Es ist in Ordnung nicht zu wissen, wie es weiter geht.“
„Ich vertraue mich dem Fluss des Lebens an.“
Wie meistens im Leben muss man es ausprobieren und schauen, ob es für einen selbst taugt.
Auf der Website der Autorin finden Sie neben dem Buch auch eine E-Book-Ausgabe sowie Affirmationskarten, Videos und vieles mehr, um Ihre eigenen Erfahrungen mit Affirmationen zu machen oder zu vertiefen.
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